- germanische Dichtung.
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Von der nur mündlich überlieferten vorchristlichen Dichtung der Germanen ist nichts erhalten. Aus Zeugnissen lateinischer Schriftsteller, besonders Tacitus (»Germania«, Kapitel 2; »Annalen«, Buch 2, Kapitel 88), und aus wenigen späteren Aufzeichnungen älterer Überlieferung (Hildebrandslied, Merseburger Zaubersprüche, Beowulf u. a.) sowie späteren Dichtungen (besonders aus dem Stoffkreis der Nibelungen- und Dietrichsage) lassen sich die Motive und Formen erschließen: Sprichwort, Rätsel, Zauberspruch, Liebes- und Kultlied, Preis- und Heldenlied, Götterdichtung und -spruch. Von der teilweise an christlicher Literatur geschulten Stabreimpoesie der Angelsachsen (Blütezeit 7.-10. Jahrhundert, überliefert im 10. Jahrhundert) lassen sich ebenso wenig Rückschlüsse auf vorchristliche germanische Dichtungsformen ziehen wie von der reichhaltigen altisländischen Prosaüberlieferung (Saga). Sie entsprang weitestgehend einer Rückbesinnung auf kulturelles Erbe der heidnischen Zeit im bereits seit 200 Jahren christianisierten Island des 13. Jahrhunderts. Am ehesten können noch eddische Dichtung (Edda) und Skaldendichtung ältere (nordische) Dichtungsformen bewahrt haben, aber auch hier zeigt sich schon bald christlicher Einfluss. Mit der Herausbildung einer adeligen Führungsschicht in der Völkerwanderungszeit entwickelten sich das epische Heldenlied und das panegyrische Preislied. Gepflegt wurden die heroischen Gattungen an den Adelshöfen; ihre Träger (althochdeutsch »scoph«, »scof«, altenglisch »scop« gegenüber altnordisch »skáld«) gehörten als Hofdichter zur Gefolgschaft der Fürsten.Der Bruch, den die Christianisierung und die Anfänge der Schriftliteratur für die germanische Dichtung bedeuten, wirkte sich für die einzelnen germanischen Völker unterschiedlich aus. Am einschneidendsten war dieser Bruch im deutschen Sprachgebiet. Weniger scharf scheint er im angelsächsischen Bereich gewesen zu sein, wo immerhin Stoffe älterer Heldenlieder zu einem Stabreimepos (»Beowulf«) verarbeitet wurden und auch traditionelle Spruchdichtung und Rätselpoesie literarische Gestalt erhielten (allerdings mit christlicher Tendenz). Stabreimvers - im angelsächsischen Bereich - und Endreimvers - im hochdeutschen Raum - fanden erst in dieser Epoche der Literarisierung ihre endgültige, ästhetisch befriedigende Form. Am längsten lebte die alte Dichtung in Skandinavien fort, so in Edda, Skaldendichtung und Saga.H. Schneider: German. Heldensagen, Bd. 1 (21962);G. Baesecke: Vor- u. Frühgesch. des dt. Schrifttums, Bd. 1: Vorgesch. des dt. Schrifttums (1940);A. Heusler: Die altgerman. Dichtung (21943, Nachdr. 1957);J. de Vries: Altnord. Literaturgesch., 2 Bde. (21964-67);Gesch. der dt. Lit. von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. K. Gysi u. a., Bd. 1: Von den Anfängen bis 1160, bearb. v. V. E. Erb (21965);V. Kellermann: German. Altertumskunde (1966);K. von See: German. Verskunst (1967);K. von See: German. Heldensage (21981);F. Genzmer: Vorgeschichtl. u. frühgeschichtl. Zeit. 2000 v. Chr.-770 n. Chr., in: Annalen der dt. Lit., hg. v. H. O. Burger (21971);Reallex. der german. Altertumskunde, begr. v. J. Hoops, neu hg. v. H. Beck u. a., auf zahlr. Bde. ber. (21973 ff.);Europ. Frühmittelalter, in: Neues Hb. der Literaturwiss., hg. v. K. von See, Bd. 6 (1985);J. Hansel: Bücherkunde für Germanisten (91991).
Universal-Lexikon. 2012.